Die wahren Kosten der Konfliktvermeidung.
Viele Unternehmen empfinden Konflikte noch immer als Störung, Ineffizienz oder Risiko. Dieses Bild ist nachvollziehbar; schließlich sind Konflikte anstrengend. Doch Organisationen, die so denken, übersehen einen ganz wichtigen Punkt:
Konflikte verschwinden nicht, wenn wir sie ignorieren. Sie verändern nur ihre Form – und werden oft teurer, leiser und zäher.
Was es Unternehmen wirklich kostet, Konflikte zu ignorieren
So lange Konflikte unausgesprochen bleiben, arbeiten Teams nicht nur unter ihren Möglichkeiten – Unternehmen verlieren messbar Geld, und zwar jeden Tag. Auch Studien verschiedener Wirtschafts- und Beratungsinstitute zeigen immer wieder ähnliche Ergebnisse:
1. Produktivitätsverlust
Mitarbeitende verbringen im Durchschnitt 2,1 Stunden pro Woche damit, Konflikten auszuweichen, sie zu umgehen oder über sie zu sprechen, aber nicht sie zu lösen. Bei 100 Mitarbeitenden betragen pro Jahr die Kosten für verlorene Arbeitszeit rund 250.000–300.000 €.
2. Fehlentscheidungen
Konfliktvermeidung führt nachweislich zu schlechteren Entscheidungen, weil wichtige Informationen nicht geteilt werden. Ohne psychologische Sicherheit sinkt die Qualität kollektiver Entscheidungen, weil Teammitglieder ihre Einwände nicht äußern. Genau das kostet Unternehmen aber Chancen, Zeit und oft echte Marktanteile.
3. Fluktuation
Unbearbeitete Konflikte gehören zu den häufigsten Kündigungsgründen. Dies zeigen auch die jährlichen Gallup-Befragungen: 50 % aller Menschen kündigen, weil sie sich vom direkten Umfeld belastet fühlen, nicht aufgrund ihrer Aufgaben. Die Neubesetzungskosten betragen zwischen 30 % und 200 % eines Jahresgehalts.
4. Krankheits- und Stresskosten
Konfliktstress führt zu:
- erhöhtem Krankenstand
- innerer Kündigung
- emotionalem Rückzug
Eine AOK-Auswertung verdeutlicht, dass psychosozial belastete Teams bis zu doppelt so viele Krankheitstage aufweisen. Je nach Unternehmensgröße sind dies mehrere hunderttausend Euro jährlich.
5. Innovationsverlust
Teams, die Konflikte vermeiden, sprechen Probleme nicht an, machen keine Vorschläge, widersprechen nicht. Ohne echte Reibung sinkt Innovationskraft deutlich.
Konfliktvermeidung ist teurer als jeder Konflikt. Sie kostet Unternehmen Geld, Geschwindigkeit, Talente und Vertrauen.
Konfliktkompetenz ist damit kein „Nice-to-have“, sondern ein echter Performance-Hebel.
Anders gesagt: Wo Konflikte nicht benannt werden dürfen, bleiben Potenziale ungenutzt.
Konflikte sind kein Unfall, sondern ein Signal
In dynamischen Märkten treffen Vielfalt, unterschiedliche Rollen und widersprüchliche Erwartungen aufeinander. Konflikte zeigen nicht automatisch, dass etwas „kaputt“ ist. Sie zeigen, dass etwas in Veränderung ist. Häufig reagieren wir darauf mit reflexhaften Strategien:
- vorschnellen Kompromissen
- Schuldzuweisungen
- Harmoniesucht
- oder Konfliktvermeidung
Das Problem dabei ist aber, dass diese Reaktionen bewährte Muster stabilisieren, statt Entwicklung zu ermöglichen.
Im Free-Energy-Principle wird das Gehirn als eine Art Vorhersageapparat betrachtet: Es versucht ständig, die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität zu minimieren, indem es entweder das Modell anpasst oder die Welt aktiv manipuliert (Handlung).
Aus neurowissenschaftlicher Perspektive ist dies gut erklärbar: Unser Gehirn spart Energie und greift lieber zu schnellen Erleichterungen, als sich auf einen anstrengenden Klärungsprozess einzulassen.
Konfliktklärung und Konfliktlösung: zwei unterschiedliche Schritte
In der Praxis werden diese beiden Schritte häufig vermischt:
- Konfliktklärung: Räume öffnen
Zunächst geht es darum, zu verstehen, worum es tatsächlich geht:
Erwartungen, Bedürfnisse, Rollen, Beziehungsmuster.
Jacob Hirsh und Kolleg*innen sprechen in diesem Zusammenhang von psychologischer Entropie – einem Zustand innerer Unordnung durch Unsicherheit. Klarheit reduziert diesen Unsicherheitsstress. - Konfliktlösung: Räume schließen
Erst wenn Klarheit hergestellt ist, stellt sich die Frage:
Was verändern wir konkret? Welche Vereinbarungen treffen wir?
Damit Lösungen tragfähig sind, braucht es ein Nervensystem, das nicht im vollen Alarmmodus ist; also ein Mindestmaß an innerer und sozialer Sicherheit.
Entscheidnungs- und Konfliktforschungsergebnisse zeigen, dass Entscheidungen besser werden, wenn Ambivalenz zunächst verstanden, statt sofort wegmoderiert wird.
Ambivalenz ist der Normalzustand, nicht das Problem
Organisationen sind voller Spannungen:
- Stabilität vs. Veränderung
- Vertrauen vs. Kontrolle
- Freiheit vs. Verantwortung
Gleichzeitig bervorzugt unser Gehirn klare, schnelle Deutungen. Studien zu Ambiguität und Entscheidung zeigen, dass Mehrdeutigkeit tendenziell als anstrengend und stressig erlebt wird. Sie aktiviert Netzwerke, die mit erhöhter Wachsamkeit und Unsicherheitsverarbeitung zu tun haben.
Ambiguitätstoleranz heißt:
- Entscheidungen als vorläufig zu verstehen
- den eigenen Standpunkt flexibel zu halten
- bewusst zu prüfen, wann Struktur hilfreich ist und wann Offenheit nötig ist
Ambiguitätstoleranz bedeutet daher nicht, alles zu relativieren, sondern bewusst in Spannungen zu bleiben, ohne vorschnell Schuld zuzuweisen.
Warum wir an Meinungen festhalten und warum das Konflikte verschärft
Doch warum fällt uns das so schwer?
Weil wir an Meinungen hängen wie an liebgewonnenen Möbelstücken. Wir haben Zeit, Emotion und Identität darin investiert. Wenn eine Meinung infrage gestellt wird, fühlt es sich so an, als sei ein Teil von uns bedroht.
Auch die Neurowissenschaft zeigt es: Soziale Zurückweisung und starke Kritik können in Teilen ähnliche Systeme im Gehirn aktivieren wie körperlicher Schmerz; etwa in der Amygdala im anterioren cingulären Cortex.
Dies legt nahe, dass eine angegriffene Meinung schnell als angegriffenes Ich erlebt wird.
Hinzu kommt, dass sich Überzeugungen über viele Erfahrungen hinweg bilden und sich in stabilen Mustern manifestieren. Neue Informationen, die dieses Bild infrage stellen, werden eher abgewehrt oder umgedeutet, als dass wir unsere Haltung sofort ändern. Studien zu sticky beliefs und konservativem Belief-Update weisen schon lange in diese Richtung.
Für Konflikte heißt das also: Sie eskalieren selten wegen des reinen Inhalts, sondern weil wir uns in der Identität bedroht fühlen.
Konflikte beginnen im Inneren und im System
In der Praxis zeigt sich, dass ein Konfikt selten nur eine Sache zwischen zwei Personen ist. Es ist fast immer ein Zusammenspiel aus inneren Mustern und Erwartungen sowie äußeren Strukturen und Rollen.
Hier ein Beispiel aus meiner Arbeitspraxis:
Ein Teamleiter empfand die knappen Antworten eines Mitarbeiters als respektlos. In der Klärung wurde deutlich, dass sich der Mitarbeiter mehr Autonomie wünschte, dies aber nicht konkret benennen konnte. Der Teamleiter wiederum reagierte mit einer alten Erfahrung im Hinterkopf: „Kurze Antworten = Ablehnung“.
Schauen wir kurz in die Gedächtnisforschung: Unser Gehirn verknüpft neue Situationen spontan mit alten Mustern. Wir reagieren dann nicht nur auf das, was gerade passiert, sondern auf das, was ähnlich schon einmal passiert ist.
Was im Unternehmen wie ein „Charakterproblem“ aussieht, ist daher häufig eine Mischung aus unklaren Bedürfnissen, alten Erfahrungen und ungünstigen Rahmenbedingungen.
Systeme sind stärker als Persönlichkeiten
Menschen verhalten sich meist systemintelligent: Sie passen sich an die Signale an, die das Umfeld sendet.
Hier ein weiteres Beispiel aus meiner Arbeitspraxis:
Eine Mitarbeiterin stellte ständig Rückfragen. Die Führungskraft hielt sie für unsicher. Ein näherer Blick auf das System zeigte:
- Entscheidungen wurden in der Vergangenheit häufig im Nachhinein korrigiert.
- Zielvorgaben waren unklar.
- Fehler wurden eher sanktioniert als zum Lernen genutzt.
Menschen entwicklen in solchen Kontexten verstärkt Schutzstrategien, wozu Rückfragen und Absicherung gehören.
Die Mitarbeiterin war also nicht „das Problem“, sondern reagierte nachvollziehbar auf die Rahmenbedingungen.
Wenn Abteilungen nicht streiten dürfen
Ein häufig auftretender Konflikt: Die Personalentwicklung möchte in Weiterbildung investieren, das Controlling soll jedoch Kosten reduzieren. Beide Bereiche haben legitime Aufträge – und damit einen strukturellen Zielkonflikt.
Wenn solche Spannungen nicht offen thematisiert werden, rutschen Teams schnell in personalisierte Zuschreibungen („Die verstehen unsere Arbeit nicht.“). Reviews zu Konflikten in Organisationen beschreiben genau diese Dynamik.
Erst wenn klar ist, dass hier Rollen und Ziele kollidieren – und nicht „die falschen Personen“ -, wird eine faire und konstruktive Lösung möglich.
Gute Führung heißt Konflikte gestalten
Die entscheidende Frage ist nicht, ob es Konflikte gibt, sondern wie früh und wie konstruktiv sie aufgegriffen werden.
Erfolgreiche Organisationen setzen dabei auf:
- klare Entscheidungs- und Verantwortungsräume,
- regelmäßige Dialog- und Reflexionsformate,
- Sichtbarkeit struktureller Spannungen, statt sie zu personalisieren.
Konfliktkompetenz ist damit kein weiches „Nice-to-have“, sondern die Basis für:
- Entscheidungsqualität
- Innovationsfähigkeit
- Mitarbeitendenbindung
- Handlungsfähigkeit in unsicheren Zeiten
Was Unternehmen konkret tun können
1. Gesprächsräume verankern
Gut gestaltete Dialogräume senken sozialen Stress und fördern gegenseitige Regulation – ein Aspekt, den auch neuere Arbeiten zu sozialer Verbundenheit und Isolation unterstreichen.
2. Führungskräfte im „Lesen“ von Konflikten schulen
Führung bedeutet heute auch, zu verstehen, wie Menschen auf Unsicherheit, Ambiguität und soziale Bedrohung reagieren – und wie man ihnen hilft, wieder in einen konstruktiven Modus zu kommen.
3. Eine Kultur entwickeln, in der Widerspruch erlaubt ist
Offener Widerspruch und Fragen sind nicht das Problem; sie sind ein Zeichen von Engagement.
Forschungsergebnisse zu psychologischer Sicherheit – wenn sich Teammitglieder trauen, offen zu sprechen, Fragen zu stellen, Ideen zu äußern und Fehler zuzugeben, ohne Angst vor negativen Konsequenzen wie Bloßstellung oder Bestrafung zu haben – zeigen, dass Teams mehr lernen und besser performen. Teams, die offen über Spannungen sprechen, treffen bessere Entscheidungen, sind lern- und innovationsfähiger.
Auch Googles Project Aristotle zeigt deutlich, dass psychologische Sicherheit der stärkste Erfolgsfaktor leistungsfähiger Teams ist.
Was wir daraus mitnehmen können
Konflikte sind nicht das Problem. Problematisch sind Muster, die sie unsichtbar machen, personalisieren oder wegdrücken.
Unternehmen, die Konflikte als Ressource nutzen, gewinnen:
- klare Rollen
- bessere Entscheidungen
- resilientere Teams
- mehr Innovation
- eine Kultur, die Menschen stärkt statt ausbrennt
Konflikte erzeugen Reibung, und Reibung erzeugt Energie. Konflikte zeigen, wo Entwicklung möglich ist.
Die eigentliche Führungsfrage lautet: Wofür nutzen wir sie?
Wenn Sie bereit sind, diese Energie sinnvoll zu nutzen, kommen Sie auf mich zu. Ich unterstütze Sie dabei, Ihr Unternehmen klarer, mutiger und lebendiger zu gestalten.
Lassen Sie uns gemeinsam den ersten Schritt gehen.